MYTHOS TRINKHALLE – EIN RÜCKBLICK AUF 150 JAHRE
Die Trinkhalle gehört zum Ruhrgebiet wie der Käse auf die Stulle, oder – frei nach Loriot – ein Leben ohne Trinkhalle ist möglich, aber sinnlos.
Die ersten Trinkhallen gab es in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Ihr damaliger Zweck ist heute allerdings in Vergessenheit geraten: Sie wurden von Mineralwasseranbietern in Industriestädten errichtet, um die Volksgesundheit zu heben (Leitungswasser war damals ungenießbar!). Trunksucht unter den Arbeitern der großen Fabriken war der bürgerlichen Gesellschaft ein Dorn im Auge und galt als Bedrohung für Ordnung und Moral. Dabei war es damals durchaus üblich, den Durst während der Arbeit mit Bier und Branntwein zu löschen. Manch ein Arbeitgeber zahlte gar einen Teil des Lohnes in Alkohol aus. So wundert es nicht, dass die Städte und Gemeinden günstige Flächen für den Bau von Trinkhallen zur Verfügung stellten. Der Gedanke, durch den Verkauf von „Heilwässern“ den kleinen Leuten das Gefühl einer „ambulanten Kur“ zu ermöglichen, findet sich vor allem in der Gestaltung der Trinkhallen wieder. Sie wurden den Pavillons des Adels nachempfunden mit offenen Seiten und vielen Verzierungen. 1859 entwarf Martin Gropius eine Form, die als Vorbild für Trinkhallen in Paris, Frankfurt, Hamburg und dem Ruhrgebiet diente.
Im Laufe der Jahre erweiterte sich das Angebot der Trinkhallen. Um die Jahrhundertwende boten sie nicht nur Mineralwasser, sondern auch Tee, Kaffee, Milch und Tabakwaren an. Bald kamen die ersten Speisen hinzu, nicht viel später wurde das Angebot um Zeitungen erweitert. Irgendwann wurde auch der Verkauf von Alkohol erlaubt. Die Trinkhalle wurde nach und nach zum Kleinstgeschäft für alle Dinge des täglichen Bedarfs und somit auch zum sozialen Treffpunkt in der Nachbarschaft. Hier traf man sich auf dem Weg zur Arbeit oder bei den kleinen Besorgungen und konnte sich zwanglos austauschen ohne sich verabreden zu müssen. Mit dem veränderten Angebot veränderten sich auch die Betreiber. Erst waren es vermehrt Bergmannswitwen oder Versehrte, nach den Weltkriegen dann Kriegerwitwen und Hinterbliebene, die durch den Betrieb einer Trinkhalle zum Lebensunterhalt ihrer Familien beitrugen.
Der Höhepunkt des Trinkhallenbooms nach dem Krieg war 1960 erreicht. Mit dem wachsenden Wohlstand der Bevölkerung, änderte sich noch einmal das Angebot. Neben Zeitschriften, nahmen Zigaretten und Süßigkeiten einen Großteil ein. Bald danach begann der Niedergang – mit dem Rückzug der Schwerindustrie schlossen auch die Trinkhallen in der Nähe der Werke. Bis 1996 die Liberalisierung des Ladenschlussgesetzes begann, waren die Trinkhallen allerdings der einzige Anlaufpunkt für alle, die nach 18.30 Uhr noch etwas besorgen wollten. In den letzten Jahrzehnten hat sich die Trinkhalle den modernen Zeiten geöffnet. Trotz aller Konkurrenz durch Supermärkte und Tankstellen haben die Trinkhallen ihren Status bewahrt. Heute gibt es immerhin noch einige von ihnen und sie sind nach wie vor lebendiger Ausdruck der Industriekultur, haben einen hohen Stellenwert für die lokale Versorgung sowie eine soziale Funktion in der Nachbarschaft. Die besondere Geschichte und der nach wie vor große Stellenwert der Trinkhallen für die Bevölkerung war ausreichend Anlass, sie zu würdigen und das Jahr 2016 zum Jahr der Trinkhallen zu machen!
Fotos: © LWL-Industriemuseum/Kraemer